Funkel

Ich habe keine Zeit gehabt.
Keine Zeit für mich, für dich, für niemanden,
erst recht nicht für Gott.
Und auch keine für die Welt.

Aber ich habe in vielen Millisekunden
ganz kurz aus meiner Schale gelinst
und das Leben von oben gesehen,
aus der guten Perspektive.

Habe mich in meinem Leben gesehen,
wie ich

die alte Katze streichle, obwohl ich schon wieder losmuss
an der roten Ampel nach oben schaue
ein paar Sekunden länger im Auto sitzen bleibe
beim Backen mehr Teig nasche, als die Kleinen
Wolle und Stoffe entrückt bestaune
im T-Shirt Holz hole und dabei an meine Mama denke
am Fenster Regentropfen zähle, statt weiterzuputzen
die Kinder noch einmal zudecken gehe, damit ich sie noch einmal riechen und küssen kann
spät abends Kaffee trinke, nur, weil er so gut schmeckt
in der Badewanne Schnulzen lese
bis in den Morgen wach liege um die Ruhe zu feiern

kurz: wie ich doch – für Sekunden nur – innehalte,
deine Kirche in mir aufsuche, mich dort bekreuzige
und dir Danke sage
für jeden Funkel in meinem Tag.

Briefe an Heute

Manchmal fühle ich mich
wie ein zerrissener Brief
mit aufgeweichter und
zerlaufener Tinte.

Wie dieser zerfetzte Brief
trage ich Sätze in mir,
die kraft- und klanglos
im Nichts verwehen.

Sätze, die ich in mancher
einsamen, zu stillen Nacht
zusammenfügte, schmeckte
und doch wieder zerriss.

Doch jede Nacht beugt die Knie
im Angesicht des Tages,
so beuge ich mich ebenfalls
vor dem, der Briefe schickte.

Und wenn Papier zu Staub zerrinnt,
dann werde ich Sein Wort
und sage dir: Hab keine Angst,
ich nehm dich bei mir auf.



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Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf,
und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf,
der mich gesandt hat. (Mt. 10.40)


Morgen

Morgen will ich gut nur zu euch sein,
kein einziges böses Wort aussprechen,
kein Spiel durch lahme Moral ersticken,
keinen Unmut an euch richten.

Morgen will ich lachen nur und küssen,
will Wünschen nur gehorchen,
will Zeit zurück in Uhren sperren,
in heißen Sand Gespenster malen,
Spaghetti zutschen, Tee laut schlürfen
und Puppenwagen schieben.

Ich will mich auch mit schmutzig machen,
vollgekleckert Käfer taufen
und den Kindersonnentag
glücktrunken eure Hand nur halten.

Abends will ich stundenlang
erzählen und das Mondlied singen,
will bei euch sitzen bis ihr schlaft
um heimlich euch die Stirn zu küssen.

…dabei im Dunkel müdeschwer
Gott innig für euch danken,
der mich für gut genug erdacht
euch Engel zu begleiten.

An alle Vertriebenen dieser Welt: „Überfahrt“ von Mascha Kaléko

Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben.
Von all den Vielen ist nur er geblieben.
Sonst keiner, der in Treue zu uns hält.

Kein Herz, das dort am Ufer um uns weint;
Nur Wind und Meer, die leise uns beklagen.
Laß uns dies alles still zu zweien tragen,
Daß keine Träne freue unseren Feind.

Sei du im Dunkeln nah. Mir wird so bang.
Ich habe Vaterland und Heim verlassen.
Es wartet so viel Weh auf fremden Gassen.
Gib du mir deine Hand. Der Weg ist lang.

Und wenn das Schiff auf fremder See zerschellt,
wir sind einander mit dem Blut verschrieben.
Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Es bleibt das eine nur: uns sehr zu lieben.

Mascha Kaléko (1945)

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Foto „Einsamkeit “ von Lukas_Ka