(K)ein Wort

Ein Gedicht soll es werden.
Oder ein Gedanke nur.
Ein einziges Wort, ein Ton.
Eine Erinnerung,
geformt aus Jahren und Nächten,
gelebt im Hier und Jetzt –
passt nicht in eine Zeile
passt nicht in ein Wort
passt nicht in ein Lachen –
ist immer da und
ist immer fort – wie ich.
Vergiss mich
nicht.

Kinderlicht

Herbstgrau zieht mir in die Kleider,

Deichwind weht vom Flusse her.

Bange Kälte zischt: Geh weg hier!

Die Dorfstraße ist menschenleer.

—–

Doch während Nebel Reigen tanzen

und Tropfen sich vereinen,

die Natur ihr Nachtlied singt –

seh’ ich am Weg die Meinen.

—–

Zwei Zwerge, hüpfend, farbenfroh

in lustig-bunten Stiefeln,

mit roten Wangen, warmer Haut,

die kleinen Nasen triefen.

—–

Ich trage keine Angst in mir,

ins Dunkle muss ich nicht,

denn in jeder Hand halt ich fest

ein kleines Weihnachtslicht.

Der Kassenzettelmann

Ich bin der Kassenzettelmann.

Was das heißt? Ich bin der, der, nachdem du fein gegessen hast, dir deinen schmutzigen Saucenmund an einer Serviette aus gestärktem Leinen abgewischt hast, aufgestanden bist und deine Wollust entsprechend bezahlt hast, kommt und die liegengebliebene Rechnung mitnimmt. Oder der den ganzen Tag im Supermarkt an der Kasse steht, von den Kassiererinnen nur mitleidig belinst und auch dort aus dem Papierkorb all die Kassenzettel einsammelt, die andere gedankenlos hineinwerfen.
Ich habe zwei Lieblingsorte. Siehst du das Lokal dort drüben? Das mit der rotweiß gestreiften Marquise? Das ist das Café Milano, dort gibt es angeblich gutes Eis. Ja, ich weiß, jetzt kannst du das nicht austesten, schließlich schneit es gerade, aber im Sommer kann man dort gutes Eis essen, sagen die Leute. Am Wochenende bin ich immer dort. Ich liebe kleine Rechnungen, auf denen nur einige wenige Dinge stehen und die durch ihre geringe Größe besonders gut aussehen, wenn man viele davon hat.
Und der andere Ort ist der Penny, vor dem ich stehe. Ein Penny wie jeder andere. Warum nicht Lidl? Nur, weil er gegenüber vom Café Milano ist, so brauch ich nicht so viel hin- und herlaufen.
An Freitagen komme ich für gewöhnlich erst sehr spät nach Hause, denn da ist im Penny die Hölle los. Jung und Alt, du weißt ja wie das ist, alle stürzen durch die Gänge, du auch, bis nichts mehr da ist. Bis sie alles weggekauft haben. Nur, um es nach zwei Wochen unangerührt wieder aus dem Kühlschrank zu werfen. Woher ich das weiß? Na ja, es hat Zeiten gegeben, da konnte ich mir diesen Luxus mit den Kassenzetteln noch nicht leisten. Da habe ich die Mülltonnen durchwühlt, nach Essbarem, nach Existenziellem, um nicht zu verrecken. Ach, jetzt guck doch nicht so angeekelt, du würdest das gleiche tun. Oh doch! Du denkst, dein Auto und deine schicken Schuhe schützen dich vor dem Hunger auf der Straße? Vor der Armut? Na gut, wenn du nachts besser schlafen kannst, dann glaub doch dran. Mir egal, ich muss erstmal ins Milano rüber. Na weil gerade eine Seniorengruppe reingegangen ist, hast du das denn nicht gesehen? Die gehen da rein, sitzen eine halbe Stunde, lassen Kaffee und Kuchen in ihre doppelkinnigen und unersättlichen Kehlen fallen und wenn sie damit fertig sind, dann gehen sie alle aufs Klo – lach nicht! – wirklich alle, glaub mir. Und dann hol ich mir meine Rechnungen! Guck mal hier, die ist von letzter Woche. Da waren junge Mütter im Milano, die hatten auch keine Zeit auf die Zettel zu achten. Schau:

Café Milano
Inhaber Fam. Wendel

1 x Cappy Orange 2,50 €
1 x Cappucchino 2,20 €
2 x Schwa.wä.ki. 4,00 €
———————————-
TOTAL: Euro 8,70 €
Mwst: 19% / 2,18 €

Da hat eine mit ihrem Kind gesessen, die haben Schwarzwälder Kirsch gegessen. Und getrunken haben sie auch und dann waren fast 9 Euro weg. Die haben 9 Euro verschluckt, jeder 4,35, inklusive Mehrwehrsteuer – beeindruckend, nicht? 9 Euro – hamm! So schnell kann’s gehen. 9 Euro und in einer halben Stunde haben sie wieder Hunger, denn unersättlich sind die Menschen, die Menschen aus dem Penny und die Menschen aus dem Café Milano. Du denkst, sie sind mal voll, nein, die könnten den ganzen Tag Geld verschlucken. Immer und immer wieder und dann rollen sie nach Hause.
Aber das alles ist mir nur recht. Ich will ja nichts von ihnen, nur die Zettel! Die Zettel! Ich hab so viele Zettel, dir würden die Augen übergehen, wenn du sie sehen würdest. Ganz viele weiße habe ich, die liegen überall, in meiner ganzen Wohnung verteilt. Ich habe nur ein paar wenige, die bunt sind, aus gelbem oder beigem Papier, die hab ich in eine Schachtel gelegt. Ach ja, und mein größter Schatz ist eine Pennyrechnung vom letzten Jahr von über 400 Euro, die hängt an meinem Bett, die reicht vom Lichtschalter bis auf den Fußboden – ja, doch! Du kannst ja mal vorbeikommen bei mir, ich zeig dir das alles! So viele Zettel hast du noch nie gesehen! Wie dem auch sei. Ich muss gehen, ich muss ins Milano. Wenn du nicht mitkommen magst – in Ordnung, dann wünsch ich dir noch einen schönen Tag. Iss dich schön satt heut Abend, schluck dein hart verdientes Geld! Und vergiss deine Tropfen vor dem Einschlafen nicht, Metall liegt bekanntlich schwer im Magen! Mach’s gut, Kumpel!

Am gestrigen Abend ereignete sich in der Eberbachstraße Höhe Pennymarkt ein tödlicher Unfall. Ein bis jetzt unbekannter Mann um die Vierzig überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten, so Augenzeugen. Beim Überqueren der Straße wurde er vermutlich aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse von einem Geldtransporter erfasst. Der wenige Minuten später an der Unfallstelle eintreffende Rettungsdienst konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Zeugen berichteten, dass der Mann obdachlos war bzw. als „verrückt“ galt. Wer eventuelle Hinweise auf die Identität und den Wohnort der Person hat, richte sich bitte an die unten aufgeführte Kontaktperson.

Reinthal, den 23. Dezember 2014

Louise Reich, i. A. Unfallkommission d. Stadt Reinthal