Herbarium für eine Rose

Neig’ dich doch hin zum Tal des toten Flieders,
blüh’ hinaus in schlummerndes Land,
wirst wohl des Nachts in Blätterpracht versinken,
dankbar sein für dein schönstes Gewand.

Wirst selbstgefällig deiner Schönheit götzen,
die dich keinen Stich größer gemacht,
die dir nicht zu Zukunft und Erben verholfen,
dich nur mit Mitleid bedacht.

Leiste dir keinen Blick mehr nach droben,
glaub mir, Rosen weinen niemals.
Was nützen dir lebensverlängernde Vasen,
was nützt dir schattendes Glas?

Wohl denn; Deine Blüte und Jugendlichkeit
vorbei nun und dürstend zerrinnt
deine Hand, die sich nie – wie wurzelnde Triebe –
in Sandboden krallte für ein Kind.

Sag mir, was bleibt nach einem Blütenleben,
das nie durch Nektar versüßt,
das nie von Bienen umsummt und umschwirrt,
das nie von Tau geküsst?

Vielleicht pflück’ ich dich aus moralischem Grund.
Dann kann ich dich trocknen und glätten,
und schließlich deine staubige Blütenpracht
in memoriam zu Grabe betten.

Für die älteste und schönste Blume in meinem Garten

Es ist der letzte Frühling wohl
der noch vollkommen scheint.
Ich spür’s im Märzwind, überall,
dass bald der Himmel weint.

Mit Knospen, warmem Sonnenkuss
täuscht Er und blendet Lider,
denn jeden Tag zerblüht ein Krokus.
Der Storch kommt auch nicht wieder.

Schatten zwingen deine Blüten,
Abschied leis‘ zu nehmen.
Es hilft kein Toben mehr, kein Wüten,
kein Beten, Bitten, Flehen…

Nur eins kann ich noch tun für dich:
Dir mein Versprechen geben.
Dein Blütenduft wird ewiglich
unsterblich in mir leben.

Herr Lohse und die Blumen

Johann Lohse ist ein komischer Kauz, sagen die Leute. Sie sehen ihn nur manchmal auf der kleinen Wiese am Ende der Friedrichsstraße, dort, wo es im Sommer kühl ist und die Mütter mit ihren Kinderwagen auf Bänken sitzen. Man sieht ihn dann, wie er auf allen Vieren in der Wiese kniet. Frau Jahn, die Frau des Hausmeisters aus der 6C bemerkt dann meistens spöttisch: „Na, ob der wieder hochkommt von da unten?!“ Die anderen Frauen nicken dazu, denn alle sehen es: Johann Lohse ist nicht mehr jung. Er schleppt seinen müden, alten Körper auf krummen O-Beinen bis zu dieser Wiese, dort sinkt er auf die Knie und irgendwann steht er wieder auf. Langsam tut er das, ängstlich, da das Kreuz steif geworden ist im Laufe der Zeit.
Andere wiederum meinen zu wissen, dass Johann Lohse wirr im Kopf ist und wieder andere glauben, dass es der Krieg war, wegen dem ihm der Verstand abhanden kam. Dieser Krieg, der schon so lange her ist und der so vielen den Verstand ausgepustet hat.

Heute ist es wieder soweit, Johann Lohse schleppt sich die knorrigen Treppen aus dem dritten Stock herunter. Zuvor hat er auf dem Balkon gestanden, fast eine halbe Stunde, und hat sich, nachdem er die Wetterlage befühlte, für diesen waghalsigen Weg nach unten entschieden. Er ist in seine Stube gegangen, hat seine Strickjacke übergezogen, die, der zwei Knöpfe fehlen, hat die Pantoffel in sein einziges Paar Schuhe eingetauscht und sich, kurz bevor er die Wohnungstür öffnete, noch einmal umgedreht. Er schaute auf die Regale, die vielen staubigen Regale, voller Bücher und Mappen, deren Rücken allesamt mit seiner krakeligen Schrift gekennzeichnet sind. Die Teppiche schluckten Staub, wie sie es tagein, tagaus tun und am großen schmutzigen Fenster, gleich neben der Balkontür, steht sein Schreibtisch aus Eichenholz, auf dem Blüten, Stängel und Blätter wirr durcheinander herumlagen und auf ihn warten würden, bis er wieder zurückkam.
Er betrachtete seine Wohnung kurz, nickte sich selbst Mut zu, schloss die Wohnungstür ab und begann, die Treppen hinunterzugehen, sich fest in das abgewetzte Geländer krallend.
Es ist nicht weit bis zu seiner Wiese und doch scheint ihm der Weg unendlich. Schon von weitem sieht er durch seine Hornbrille die Mütter sitzen und ärgert sich darüber. Sie werden wieder lästern und sich ihren Teil über ihn denken. Doch eigentlich ist ihm das egal, denn er braucht sie nicht, diese Frauen und auch sonst braucht er niemanden auf der Welt: Nur seine Pflanzen braucht er, seine Herbarien, seine Kräuter und Kakteen, seine Blüten und Blätter, die er stundenlang betrachtet, trocknet, ordnet. Die er anschließend in Mappen klebt, welche er beschriftet und dann fein säuberlich in eines seiner staubigen Regale stellt.

Endlich kommt er an, auf seiner Wiese. Das Gras steht hoch, es ist Juni und die Stadtverwaltung schafft es zum Glück nicht, die Stoppel regelmäßig zu stutzen. Umso besser für mich – denkt er und geht langsam an einer vielversprechenden Stelle auf die Knie.
Er hat kaum begonnen, mit seinen faltigen, durchsichtigen Fingern Taubennessel, Löwenzahn und Hirtentäschel zu durchkämmen, als plötzlich ein glockenhelles Stimmchen an sein Ohr dringt:
„Was macht du da?“
Er hebt den Kopf und sieht sie vor sich stehen: Ein kleines Mädchen, sechs oder sieben vielleicht, so genau kann er das nicht einschätzen, mit einem Blumenkleid und zwei geflochtenen Zöpfen, die von roten Bändern zusammengehalten werden. Sie schaut ihn aus ehrlichen Augen an und er entschließt sich nach kurzem Ringen doch aufzustehen.
Ohne Vorwarnung geht ihm ein Zucken durch den schmerzenden Körper, denn ihre kleine weiße Hand hat die seine berührt. Er blickt in das Gesicht des Mädchens. Sie hält ihm ihre Hand immer noch ausgestreckt hin. Er nimmt diese kleine Hand schließlich, obwohl er weiß, dass er es nun, seiner Stütze beraubt, noch schwerer haben wird, aufzustehen. Aber er schafft es und endlich steht er Luft schnappend vor ihr und hört sie wieder fragen:
„Was machst du da?“
Er schluckt. Er sucht nach Worten, die ihm alle entfallen scheinen, so lange hat er sie nicht gebraucht. Endlich sagt er mit einer ihm fremden und seltsam knarzigen Stimme:
„Ich suche Blumen.“
„Was machst du mit den Blumen, wenn du sie gefunden hast?“
Langsam lockern sich seine Zunge und sein Verstand. Er räuspert sich erneut.
„Ich nehme sie mit nach Hause, dann trockne ich sie und dann lege ich sie in Mappen.“ „Warum?“
Das Mädchen hat den Kopf schief gelegt und blinzelt ihn neugierig an.
„Das sind meine Herbarien. Ich schreibe alles auf. Wie die Pflanze heißt, wo ich sie gefunden habe. Wie sie aussah und für …“ – er räuspert sich erneut – „für was man sie nutzen kann.“
Die Kleine schweigt. Nachdenklich schaut sie von dem Alten zu der Stelle, an der er eben noch gekniet hatte und dann auf seine Hand, in der er zwei Stängel fest umklammert hält. „Und wie heißen die da?“ fragt sie ihn schließlich.
„Das hier ist ein wildes Stiefmütterchen und die kleine Blasse hier ist eine Schachbrettblume.“
Er staunt über sich selbst während er das sagt und spürt, wie Freude ihm ins Herz kriecht. Er freut sich über dieses kleine Wesen, das da im Sonnenlicht vor ihm steht, zu ihm heraufblickt und sich für seine Blumen interessiert. Er freut sich auch über sich selbst, über seine Worte und seine Hände, die nun die Blümchen in die Hand des Mädchens legen.
„Wie heißt du denn?“
„Ich bin der alte Johann“ sagt er. „Und du?“
„Ich heiße Magdalena.“ Jetzt dreht sie sich nervös um und fängt an, auf der Stelle zu trippeln. „Ich muss nach Hause, Mama wartet mit dem Mittagessen. Zeigst du mir mal deine eingeklebten Blumen in den Mappen?“
Ein kleines Lächeln beginnt auf seinen Lippen zu zittern. Er hört es in seinem Brustkorb heftig klopfen.
„Ja…jaja, natürlich.“
Sie grinst ihn an, die Sommersprossen hüpfen auf ihrem Gesicht. Sie rennt davon, vorbei an den Müttern mit ihren Kinderwagen, vorbei an den Autos, die am Gehsteig parken. Vorbei an der Haustür der 7A, bis hin zur 9B, wo auch er wohnt.

Er schaut auf die Wiese und entschließt sich, dass es genug war für heute.
Der Heimweg fällt ihm diesmal erstaunlich leicht.